Warum eine Vagina durch Sex nicht „ausleiern“ kann und was dahintersteckt, wenn es sich so anfühlt.
Mythen über Sex halten sich meist hartnäckig. Und Geschichten rund um das weibliche Geschlechtsorgan scheinen dabei besonders gut zu funktionieren. Man kann eben nicht so ohne Weiteres reinschauen – vielleicht reicht das schon, um sich die absurdesten Vorstellungen davon zu machen. Die Vagina als Bedrohung und sogar mit Zähnen oder – das höre ich immer wieder von Jugendlichen, wenn ich sie in Workshops frage, für wie lang sie die Vagina halten – als unendlich langer Tunnel, bei dem man nicht weiß, wo er endet. Sagenumwoben könnte man sagen. Oder: negativ mystifiziert. Eine kurze Aufklärung für alle, die jetzt kurz überlegt haben, wie lang die Vagina denn nun wirklich ist, denn so etwas misst man ja nicht alle Tage aus: Im Durchschnitt misst sie zehn Zentimeter von Scheideneingang bis zum Muttermund, wo sie endet. Also gar nicht so unendlich und auch der Eingang zur Gebärmutter ist mit dem Finger ertastbar, wenn man das will.
Den Mythos, um den es hier geht und der gleich entzaubert wird, ist folgender: Vaginen weiten sich aus, bevorzugt durch viel Sex mit Geschlechtsverkehr, und fühlen sich dann irgendwann ausgeleiert an. Und zwar vor allem für die Penisse und die dazugehörigen Menschen. Ganz salopp gesagt: „Die Muschi ist einfach zu weit! Da spüre ich als Mann gar nichts mehr.“
Erregung ist nicht immer sichtbar
Um zu verstehen, woher diese Aussagen kommen und was wirklich mit einer Vulva und Vagina beim Sex und danach passiert, fängt man am besten mit der Erregung und dem Körper an. Sexuelle Erregung kann man oft im ganzen Körper spüren, ein kribbeliges, ziehendes, spannendes – oder wie es sich eben für dich anfühlt – Gefühl in den Genitalien gehört aber in jedem Fall dazu. Ein Penis reagiert da auf sehr sichtbare Art und wird meistens steif (und durch den Lusttropfen auch feucht), bei Vulva und Vagina passiert im Prinzip genau das Gleiche, nur kann man es nicht immer so einfach sehen: Die sonst aufeinanderliegenden Scheidenwände werden weich und bereit, etwas aktiv aufzunehmen; ab dem Scheideneingang wird es feucht und die Schwellkörper der Klitoris füllen sich mit Blut. So kann auch die Vulva sichtbar anschwillen und sogar die Gebärmutter macht mit und zieht sich ein Stückchen nach hinten zurück. Von wegen passiv also! In diesem Zustand kann eine Vagina, wenn sie denn will, Finger, einen Penis, einen Dildo aufnehmen – ohne Schmerzen und je nach bisher gemachten Spürerfahrungen mit Lust, Genuss und geilen Gefühlen.
Eine nicht unerhebliche Rolle dabei spielt auch der Beckenboden, eine dreischichtige Muskelgruppe, die auch um die Vagina herum liegt. Wenn diese erregt ist, wird der Beckenbodenmuskel ganz weich – auch ein Grund, warum nichts wehtut beim Sex und im Umkehrschluss häufig auch der Grund, WARUM etwas wehtun kann: Dann nämlich, wenn die Scheide noch nicht erregt genug ist und der Beckenbodenmuskel noch angespannt.
Zurück in den „Normalzustand“
Warum ich das alles so im Detail erkläre? Weil es wichtig ist zu verstehen, dass eine Vagina bei Erregung weich und weiter wird – im „Normalzustand“ danach aber wieder genauso „eng“ wird, wie sie es vorher war. Egal wie viel Penis-in-Scheide-Sex eine Frau also hatte: Sie wird nicht weiter und so etwas wie ausleiern gibt es nicht! Unser Körper kann zwischen den Zuständen „Erregung“ und „Alles wie immer“ einfach hin- und herswitchen, wenn man es ihn in seinem Tempo tun lässt. Beim Penis hat sich die breite Masse auch noch nie gefragt, ob er durch das ständige Steif-Werden denn nicht irgendwann beschädigt werden könnte!
Aber woher kommt den nun der Eindruck oder das Beklagen mancher Männer, dass es einfach „nicht mehr eng genug“ wäre und sie nichts spüren? Abgesehen davon, dass es teilweise als abwertende Aussage gegenüber Frauen benutzt wird und dann nur den Sinn hat, zu beleidigen, kann es real erlebte Erfahrung sein, die mir auch in der Beratungspraxis begegnet: das Gefühl, sehr wenig mit dem Penis zu spüren und nicht genug Druck von außen zu bekommen. Und genau da liegt die Erklärung! Viele der Männer, die das so erleben, sind – oft vor allem in der Selbstbefriedigung – enormen Druck auf ihren Penis gewohnt. Sie umfassen, drücken ihn mit ein oder zwei Händen und bieten so mehr Druck an, als eine Vagina jemals leisten wird können. Völlig logisch also: Befriedigt sich jemand über Jahre hinweg ausschließlich mit starkem Druck auf dem Penis, dann gewöhnt er sich daran. Sanftere, sachtere Berührungen am Penis, ein Streicheln oder einfach weniger starker Druck werden dann nicht als lustvoll oder eben auch so gut wie gar nicht mehr wahrgenommen.
Auf den Spürradius kommt es an!
Dazu kommt, dass beim Sex zu zweit auch irgendwie das Becken bewegt werden muss – eine Bewegung, die in der Selbstbefriedigung oft überhaupt nicht vorkommt, wenn jemand – ich beschreibe jetzt mal das Extrem – völlig bewegungslos auf dem Bett liegt und sich nur seine Hand hoch und runter bewegt. Beim masturbieren kann das super funktionieren und ist dann eben die individuelle Art, sich Lust zu machen und die zu steigern. Wenn jetzt aber ein solcher spür-ungelernter oder sagen wir leicht spür-limitierter Penis von einer Scheide aufgenommen wird, dann fühlt er wahrscheinlich: wenig. Und das hat kein bisschen etwas mit der Beschaffenheit der Vagina zu tun, sondern schlicht und einfach mit seinem angelernten Spürradius, der in diesem Fall nicht ganz so breit ist.
Wenn man hier also etwas verändern will, ist die Vagina der gänzlich falsche Ort dafür. Die Idee, eine Vagina zu „straffen“, operativ zu „verengen“ oder zu „verjüngen“ und was es da alles gibt, kann nur aus der Ecke der spür-ungelernten Penisse kommen. Denn es verfehlt die Ursache komplett und sucht nach Optimierungsmöglichkeiten am falschen Ende. Viel nachhaltiger ist es, bei der Person mit Penis anzusetzen, die sich gewahr werden darf, dass es einfach noch mehr gibt als Druck.
Spür-Suche beim Sex zu zweit
Die eigene Sexualität und Art der Selbstbefriedigung hat man sich über Jahre hinweg nach dem Prinzip von „Was ich (aus)probiere und sich gut anfühlt und funktioniert, mache ich nochmal und lege so Lustverknüpfungen an“ gelernt. Und das bedeutet im Umkehrschluss, dass man auch dort ein Leben lang dazulernen und erweitern kann: Zum Beispiel auch, auf andere Berührungen und Bewegungen am Penis mit Lust und Erregung zu reagieren. Und das gilt es, bei sich selbst zu etablieren – ganz konkret in der Selbstbefriedigung, bevor es dann auf neue Spür-Suche beim Sex zu zweit geht. In der Sexualberatungs-Praxis können da am Anfang erst mal Aufmerksamkeits- und Hinspür-Übungen stehen, um überhaupt zu lernen, wie sich ein Körperteil ganz unterschiedlich anfühlen kann, je nachdem ob es ent- oder angespannt ist oder ob man es selbst sanft oder mit Druck berührt. Welche Rolle spielen Atem, Rhythmus und Bewegung dabei? Zuhause kann dann auch im sexuellen Kontext „weitergeübt“ werden. Und ja: das erfordert Zeit und Geduld, denn etwas Neues zu lernen geht nie von heute auf Morgen. Und darf deswegen in ganz kleinen Schritten gemacht werden.
Wir halten also fest: Es gibt keine „zu weiten Muschis“ – sondern höchstens spür-ungelernte Penisse. Und die haben die Chance, was dazuzulernen. Denn das geht zum Glück immer im Leben, völlig unabhängig von Geschlecht und Alter.
Dieser Text ist bei editionf.com erschienen