Warum hat man unterschiedlich Lust und was für Lust-Zugänge gibt es?
Wir können uns wohl alle schnell darauf einigen, dass die Eigenschaften, Erfahrungen und Persönlichkeitsmerkmale jedes Menschen ganz unterschiedlich und individuell sind – zum Glück, kann man ergänzen, alles andere wäre höchstwahrscheinlich ziemlich langweilig.
Wie kommt es aber dann, dass in vielen Köpfen beim Thema „Lust auf Sex“ eine Idealvorstellung besteht, nach der beide Sex- oder Beziehungs- Partner*innen im besten Fall gleich viel, gleich oft und gleich starke Lust darauf haben, Sex miteinander zu haben?
Unrealistische Vorstellungen über Sex
Dieses Narrativ passt gut zu einer Reihe weitere unrealistischer Vorstellungen über Sex: Dass der immer „einfach so“ funktioniert, dass die Lust dafür „aus dem Nichts“ kommt und dass in der Sexualität nichts veränderbar ist. In dieser imaginierten Sex-Welt läuft also alles immer rund, Bedürfnisse scheinen identisch zu sein – und wenn es mal nicht klappt, tja, dann gibt es leider auch keine Erklärung dafür, sondern am Ende nur das Gefühl, unzulänglich zu sein.
Stopp und Quatsch! Was ich hier schon einigermaßen überspitzt formuliert habe, können die Meisten wahrscheinlich aus eigener Erfahrung widerlegen: In einer Beziehung ist das sexuelle Begehren nie ganz gleich – es gibt immer eine Person, die mehr davon zeigt, während die andere im Vergleich dazu insgesamt „weniger“ Lust zu haben scheint. Interessant dabei: Das Verhältnis muss nicht immer gleichbleiben und kann sich je nach Lebens- und Lustphase auch umdrehen. Und was jetzt „viel“ oder „wenig“ bedeutet ist auch niemals fix: In der einen Beziehung ist die Person mit dem wöchentlichen Verlangen nach Sex vielleicht die „Viel-Wollende“ – in einer anderen Beziehung mit einem anderen Gegenüber kann Sie auch die „Weniger-Wollende“ Person sein.
Der Therapeut David Schnarch geht sogar noch einen Schritt weiter und stößt uns auf folgenden Gedanken: Die Person mit dem weniger starken sexuellen Begehren hat ganz schön Macht über die gelebte Sexualität. Denn sie „entscheidet“ letztendlich oft, ob es jetzt zum Sex kommt – oder eben nicht.
Ist das jetzt etwas Schlechtes? Nein! Es ist einfach die Realität, dass zwei Menschen in einer Beziehung nicht immer das gleiche wollen, unterschiedlich ticken und verschiedene Bedürfnisse haben. Das fängt im Alltag an und geht bei allen Bereichen der Beziehungsgestaltung weiter: Auch bei der Sexualität.
Wie entsteht unterschiedliche Lust?
Spannend ist es, mal einen Blick darauf zu werfen, wie diese „unterschiedliche Lust“ eigentlich entsteht. Lust als Teil der Sexualität ist etwas, dass wir erlernt haben: Schon ab der Geburt verknüpfen wir Sinnes- und Spürerfahrungen mit bestimmten Gefühlen. (Selbst)Berührungen gehören dazu, und wenn sich etwas angenehm, kribbelig und lustvoll anfühlt wird es im Regelfall und wenn man die Möglichkeit dazu hat auch wiederholt.
chon Kinder berühren sich am ganzen Körper inklusive der eigenen Geschlechtsteile und so entwickeln sich ganz individuelle „Spür-Connections“ und Lust Verknüpfungen. Später in der Selbstbefriedigung kann das für die eine bedeuten, dass es sich lustvoll anfühlt, die Vulva an etwas zu reiben und dabei das Becken zu bewegen – für die andere braucht es einen gewissen Druck mit den Fingern und Anspannung im Unterkörper, um Erregung zu spüren. Diese verschiedenen – und es gibt noch viel mehr Arten sich selbst zu befriedigen! – Lust-Modi resultieren also aus einem ganz eigenen, individuellen Lern- und Aneigungsprozess. Und in diesem bildet sich auch heraus, was für Lust-Zugänge eine Person bisher kennengelernt und für sich etabliert hat.
Lust-Zugänge können ganz unterschiedlich funktionieren. Und jeder dieser „Sprungbretter zur Lust“ ist berechtigt – es kann aber durchaus mal spannend sein zu überlegen: Was nutze ich, um in die Lust zu kommen? Brauche ich etwas Bestimmtes dafür und wie einfach oder schwer ist es für mich, genau das bei Bedarf herzuholen und ein Stück weit bewusst zu steuern?
Sprungbretter in die Lust
Es gibt da nämlich ganz unterschiedliche Sprungbretter – und manche sind deutlich flexibler als andere. Ein Klassiker, den ich oft in meiner Praxis höre, ist: Ich muss in einer bestimmte „Stimmung“ sein, in dem ich mich meinem/meiner Partner*in ganz nahe fühle! Es gibt aber genauso das Gegenteil: „Für mich muss es ganz aufregend sein, wenn wir erwischt werden könnten oder z.B. nach einem Streit oder emotionalen Gespräch kommt bei mir am meisten Lust“.
Dass starke Emotionen – sie es nun Liebe oder Aufregung – viel mit uns und unserem Körper machen, ist unbestritten. Diese Art von „Deep-Feeling-Sex“ kann wunderbar, toll, verbindend oder befreiend und intensiv sein – also genießt es!
Ist diese Art des Lust-Zugangs aber die Einzige, ein „Must-have“ quasi – dann kann es auch mal schwierig werden. Denn in einer Beziehung ist nicht immer alles rosa-rot, das Gefühl von tiefer Nähe ist nicht rund um die Uhr da, genauso wenig wie Streit und Aufregung (auch wenn es bei diesem Punkt sicher einige Ausnahmen gibt – da muss jede*r für sich entscheiden, wie viel davon gesund und aushaltbar ist). Das bedeutet für die Lust: Ich muss also auf ganz bestimmte Gefühle warten oder sie versuchen herzustellen, damit Sex möglich ist. Das macht mich abhängig von Ihnen – und ich habe weniger Einfluss auf die Lust.
Es gibt aber auch einen direkteren Weg zu Lust. Manchmal vergessen wir nämlich, wo und womit wir unsere Lust und Erregung neben dem Kopf eigentlich erzeugen: Mit dem Körper! Großer Vorteil hier: Unseren Körper haben wir immer dabei und mit unserem Körper können wir so einiges machen und lernen, was uns in die Lust bringt. Und wenn wir größeren Zugriff auf unsere „Körper-Tools“ haben, also wissen, wie wir selbst Einfluss ausüben können – dann können wir auch unsere Lust ein Stück weit bewusster steuern. Keine schlechte Erweiterung also!
Wie das ganz konkret aussehen kann und was es heißt, seine „Körper-Tools“ bewusst einzusetzen um größere Entscheidungsgewalt über die eigene Lust zu haben, das verrate ich dir in Teil 2 meines Blog-Beitrags!
Dieser Text ist auf ohmyfantasy.com erschienen